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Carpe Diem

Liebesbrief an eine Unbekannte

Irgendwo da draußen gibt es eine schöne Frau.
Sie gießt gerade liebevoll ihre Blumen. Wenn sie zu Hause ist, trägt sie Jeans und einen weißen weichen Pullover direkt auf ihrer nackten Haut. Sie liebt es, wenn die weiche Wolle jeden Zentimeter ihres Oberkörpers streichelt. Ihre Haare umrahmen das schlanke ovale Gesicht mit den Augen, durch die man tief in ihre Seele blicken könnte.

Diese Frau fühlt sich oft einsam. Sie genießt es zwar, allein zu sein, dennoch sehnt sie sich manchmal nach einem Partner, der sie mit zärtlichem Blicken betrachtet, ihre Interessen an Literatur und Musik teilt, ihre Träume versteht und mit ihr gemeinsam an der stillen Zufriedenheit und der Ruhe dieses Nachmittages erfreut.

Einige Jahre war sie gebunden gewesen. Ihr Partner hat sich immer wieder mit anderen Frauen eingelassen, er konnte ganz einfach nicht treu sein. Einige Jahre hatte es gedauert, bis Sie sich von ihm lösen konnte, und nun lebt sie ein beschauliches Leben inmitten der Dinge, die sie so liebt : Ihre Bücher, die Pflanzen, die Malerei, Gedichte, Gesang, Musik.

Manchmal wird sie angesprochen, hofiert, doch die Männer, die sie trifft, sind ihr entweder intelektuell unterlegen oder weisen die gleichen Charakterzüge auf, wie ihr Ex-Partner.
Er hatte sie vereinnahmt, niemals als gleichgestellte Persönlichkeit, eher als seinen Besitz betrachtet. Am Treffendsten hatte er einmal selbst seine Einstellung zu einer dauerhaften Liebe charakterisiert und sie als seinen "Lebensabschnittspartner" bezeichnet.

Seelische Wunden vernarben, wenn sie tief genug sind, zu rauhen Stellen, ganz genauso wie bei wirklichen Verletzungen. Doch er kann ihr nichts mehr tun, er ist weg, der Kontakt ist abgebrochen, und er ist nicht mehr in der Stadt.

Sie ist scheu geworden, sitzt oft mit angezogenen Beinen auf ihrer kleinen Sitzgarnitur, während sie der Musik lauscht, manchmal verirrt sich ihr Daumennagel zwischen die Zähne, wenn Bilder aus der Vergangenheit in ihr auftauchen.

Das Leben.

Irgendwie machen die Menschen sie nervös, sie ist viel empfänglicher, sensitiver geworden, seit er ihr wehgetan hat. "Wozu hättest Du heute Lust?" fragt ihre Freundin oft, will sie mitreißen, doch in der geschützten Umgebung ihrer kleinen Wohnung fühlt sie sich am Wohlsten.
Sie liest viel. Ihre gesamte Aufmerksamkeit fokussiert sich auf die Worte von Shakespeare, Keats, sie amüsiert sich über Ogden Nash und wenn sie wirklich traurig sein will, lauscht sie den Texten von Tom Waits, der mit seiner alkohol-, zigaretten-zerstörten rauhen Stimme singt "I can´t wait until I get home and see my baby"

Tagsüber scheint sie fröhlich, zumindest morgens, nach mittag fällt es ihr oft schwer, sich zu konzentrieren, doch wenn die anderen um fünf oder sechs Uhr gehen, erledigt sie noch Dinge, die ihr Zeit und Raum für den nächsten Tag schaffen. Die Leute in ihrer Umgebung mögen, lieben sie, vor allem die Männer sind immer mit mehr oder weniger angenehmen Aufmerksamkeiten an ihr dran. Keiner von denen ist in Art oder Aussehen interessant für sie, objektiv betrachtet vielleicht, aber nicht für sie, nein für sie muss ein Partner, ein Mann, die große Liebe, ganz anders sein. Warum eigentlich die große Liebe ? Gibt es die überhaupt ?

Sie träumt oft von Wasser, von Seen. Ihr schönster Traum ist der von dem spiegelglatten kühlen Gebirgssee, der sogar in der Nacht azurblau leuchtet. In diesem Traum liegt ihr Körper einige Meter unter der Wasseroberfläche und ihr Geist betrachtet ihn, wie durch eine Kamera. Jedes Detail ihrer Gestalt, ihres Gesichtes ist durch das Wasser sichtbar, erkennbar. Zuerst betrachtet sie sich selbst dort im See mit Trauer, dann ändert sich das Gefühl zur Erkenntnis, dass sie aus diesem Wasser wiedergeboren wird. Damit ändert sich auch die Perspektive, plötzlich ist sie in ihrem Körper und öffnet die Augen. Verschwommen erkennt sie den Himmel, den Mond, diese unwirklich große Scheibe zwischen den glitzernden Sternen, deren weiße Fläche Gesichter aus der Feenwelt erahnen lässt. Atmen ist nicht nötig, doch irgendetwas zwingt sie, darüber nachzudenken, dass es Zeit ist, aufzutauchen. Dann rauschen Luftblasen um ihr Gesicht und ihr Körper durchbricht die Oberfläche.
Der Laut des aufgepeitschten Wassers zerstört die Stille, zerbricht das Spiegelbild der Berge, die Luft dringt kalt in ihre Lungen.
Langsam gleiten die Tropfen über ihre Schultern, die Arme, ihre Brüste, sie öffnet ihre Lider weit und die Umgebung wird ein wenig heller, als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnen.

So steht sie bis zum Nabel in einer schwarzen, kalten Flüssigkeit, die wie ein Lebewesen anmutet, legt ihre Handflächen glatt auf die Wellen und bringt damit die Oberfläche wieder zur Ruhe.
Dann hebt sich ihr rechter Oberschenkel sanft aus der Schwärze und das Licht spiegelt sich auf der nassen Haut. Das Wasser ist kein Hindernis, es teilt sich, während ihre Beine fast mechanisch den Körper an das Ufer tragen.
Sie setzt sich auf die Schottersteine und blickt in das Dunkel des Sees, aus dem sie gekommen ist. Ein Luftzug verrät die Beschaffenheit der Umwelt, hier, draußen.
Eine Sternschnuppe fällt vom Himmel, direkt in den See.
Der Dampf und das Glühen bestimmt die Erkenntnis, die sie nach dem Erwachen aus diesem Traum mitnimmt.
Leben ist uns gegeben. Es kommt aus einem großen Dunkel, dem Unbekannten.

Aus dem Schutz der Dunkelheit steigt ein Wesen empor und erblickt die Schönheiten der Schöpfung. Es ist kalt. Wenn man sich bewegt, wird es wärmer. Es ist ein tiefes Gefühl, tief und erhebend.
Der Weg aus dem Wasser - ans Licht - in den Himmel.

Die meisten Menschen, die sie trifft, reden von Realität.
Die meisten Menschen, die sie trifft, sind unglücklich.
Sie vertraut auf ihre Intuition, sie weiß, dass sich ihr Wunsch erfüllen wird, eine Liebe, die ewig währt, ein Gefühl, das allem gleichkommt, was die Worte der Dichter, die Laute der Musik und die Bilder der Natur in ihr hervorgerufen haben.

Wenn sie das Licht ihrer Nachttischlampe löscht, sich in ihre weiche duftende Bettwäsche kuschelt, dann schlägt neben ihr mein Herz.
Mein ganzes Sein gehört ihr, ich streichle sanft über ihre Augenbrauen, die Unterlippe, küsse ihr Ohrläppchen und berühre mit meinen Augen ihre Schulter. Das spürt sie.
Einverständnis merkt man am Gesichtsausdruck.
Während sie das Laken näher zu sich zieht, träumt sie ihren Traum.
Ich muss weg, aus dem Fenster, durch die Wand, ich bin nur ein Geist, ein ewiger Wanderer, kenne sie gar nicht, war nur da, habe sie gerochen, gespürt, begriffen, verstanden, zu lieben gelernt - ich war bei ihr.

Irgendwo da draußen wacht sie auf, erinnert sich an eine Berührung, Hoffnung regt sich.
Ich sitze da.
Sie dort, irgendwo.
Wann werden wir uns begegnen ?